Eule, Wolf und Falken in der Spadina Subway, Toronto. Ein Geschenk der Gitxsan First Nations (1979). Foto: Monika Jäggi

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Totems – wenn geschnitzte Pfähle Geschichten erzählen

Von der kanadischen Westküste gestohlen und weltweit verkauft, fordern heute die First Nations ihre aus Roten Zedern bearbeiteten Totems zurück. Durch die Abholzung der Küstenwälder werden diese Bäume dort jedoch immer seltener. Eine Spurensuche.

Monika Jäggi | In traditionelle Gewänder gekleidet und verbunden mit hohen Erwartungen besuchte kürzlich eine Delegation der Nisga’a First Nations das Nationalmuseum in Edinburgh – nicht etwa, um das Museum auf einer touristischen Reise zu besichtigen. Vielmehr reisten die sieben Mitglieder der First Nations Band aus der kanadischen Provinz Britisch Kolumbien für einen speziellen Anlass nach Schottland. Bei dem Besuch ging es um eine Repatriierung, um die Rückforderung des vor über 100 Jahren gestohlenen Nisga’a Totems: «Der Besuch ist für uns sehr emotional», schreibt Häuptling Earl Stephens in einer Mitteilung. Es sei das erste Mal, dass die Delegation ein solches Totem sehen könne. 

Ist die Rückgabe des Totems – auch bekannt als Ni’isjoohl Erinnerungs-Pfahl –
erfolgreich, wird so auch ein Teil der kulturellen Identität der Nisga’a First Nations wieder hergestellt: «Für unsere Kinder wird es dann nicht mehr so schwierig sein, nach der Geschichte ihrer Herkunft suchen zu müssen», erklärt Amy Parent von der Simon- Fraser-Universität, welche die Nisga’a First Nation repräsentiert. «Das Museum kann uns dabei unterstützen, unsere Geschichte neu zu schreiben.» Die Rückgabe sei eine Gelegenheit für die schottische Regierung, zu zeigen, dass die «United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples» (UNDRIP) mehr als nur Symbolik bedeute. 

Besagtes Totem wurde 1929 von Marius Barbeau, einem kanadischen Anthropologen, aus dem Dorf der Nisga’a gestohlen, als diese auf der Jagd waren. Später wurde der handgeschnitzte Pfahl aus den 1860er- Jahren an das Museum in Schottland verkauft. Seine geschnitzten Symbole erzählen die Geschichte von Ts’wawit, einem Krieger, der, kurz vor seiner Einsetzung als Häuptling, während einer Auseinandersetzung mit einem benachbarten Stamm getötet worden war. So wie dieses und andere 
Totems wurden damals zahlreiche indianische Kulturgegenstände gestohlen und weltweit an Museen verkauft. 

Faszination Totem 

Damals wie heute faszinieren die hohen Pfähle mit ihren Symbolfiguren. Ihr spiritueller, kultureller und gesellschaftlicher Hintergrund wird jedoch von der nicht indigenen Bevölkerung wenig verstanden. Wenig bekannt ist beispielsweise, dass Totems nicht Teil aller indianischen Kulturen in Kanada sind. Die Tradition des Totemschnitzens fand und findet sich nur an der pazifischen Nordwestküste – bei den Haida, Nuxalk, Kwakwaka’wakw, Tlingit, Tsimshian und den Küsten Salish und Nisga’a. Totems werden aus den Stämmen alter, gerade gewachsener Roter Zedern (deutsch Riesen-Lebensbaum, lateinisch Thuja plicata, englisch Western Redcedar) von Hand geschnitzt, die nur in der kühlen, feuchten Umgebung der pazifischen Nordwestküste vorkommen. Deshalb beschränkt sich die Tradition des Totemschnitzens auf das Verbreitungsgebiet dieses Baums. 

Was Totems so faszinierend macht, sind ihre spektakulären Formen, die komplizierten Muster, ihre monumentale Grösse – die meisten sind zwischen 3 und 18 Meter hoch –, ihr Umfang und das Gewicht. 

Der amerikanische Anthropologe Edward Malin spezialisierte sich auf die Analyse von Totempfählen, besonders auf ihre stilistischen und gestalterischen Komponenten, sowie auf ihre symbolische Bedeutung. Mali ist überzeugt: «Diese Pole haben eine künstlerische Bedeutung erlangt, die es sonst nirgendwo gibt auf der Welt.» Er spricht damit die überdimensional gross geschnitzten Figuren an. Fast schon unheimlich anzuschauen, eindringlich in ihrem Wesen, sind es häufig Tierskulpturen wie Raben mit spitz zulaufendem Schnabel oder Adler mit gekrümmtem Schnabel und Bären mit auffallenden Ohren, scharfen Zähnen und grossen Tatzen mit langen Krallen dargestellt. Biber werden mit auffallend langen Schneidezähnen und mit Schwänzen mit Kreuzschraffur abgebildet. 

Auch Fische, Wölfe, Frösche, Moskitos, Killerwale und Haie oder übernatürliche Wesen wie der Donnervogel oder die Seeschlange sind abgebildet, ebenso wie Vorfahren, von denen die Nachkommen erbliche Rechte und Privilegien erhalten haben. Zu diesen Rechten gehören etwa Land, Ressourcen, Namen oder Zeremonien sowie Lieder, Masken oder Tänze und Auszeichnungen, die bei Zeremonien gezeigt werden. Pole verkünden und bestätigen zudem die Abstammung und Bedeutung einer Person.Totems haben keine religiöse Bedeutung, sondern geben das traditionelle Wissen von Generation zu Generation weiter. Nur Familienmitgliedern steht das Recht zu, ihre Geschichte zu erzählen. Jedes Totem kann, basierend auf seinem Stil und dem Design der Schnitzereien, einer Familie, einem Klan oder einer Region zugeordnet werden. Die Haida beispielsweise schnitzen Skulpturen mit ausdrucksstarken Augen, während die Figuren der Kwakwaka’wakw schmale Augen haben. Allerdings ist die Rote Zeder für die First Nations mehr als nur ein auszuhöhlender Baum. Ihr kommt eine wichtige spirituelle Bedeutung zu. Zedern gehören zu den wichtigsten Zeremonialpflanzen der nordamerikanischen Ureinwohner und werden mit Heilung, Träumen und Schutz vor Krankheiten in Verbindung gebracht.

Spirituelle Zeder

Die Arbeit des «Wood Carver», des Schnitzers, war traditionell den Männern vorbehalten. Angesehen in der Gemeinschaft, setzte sie viel Erfahrung voraus. Jetzt trauen sich auch Frauen dieses Handwerk zu, so wie die Künstlerin Alison Marks von den Tlingit. Als erste Frau der Tlingit hat sie 2019 ein Totem geschnitzt, das sie ihrem Grossvater – dieser gehörte dem Rabenclan an – widmete. Aber auch die Moderne hielt Einzug: zuoberst der Rabe, darunter eine Symbolfigur ihres Grossvaters mit seiner Kaffee-Thermosflasche.

Totems werden jeweils aus einem einzigen Baumstamm, der auf der Rückseite ausgehöhlt wird, geschnitzt. Schnitzer bevorzugen das Holz wegen seiner Weichheit, seiner geraden Maserung, seines geringen Gewichts und des eingelagerten Fungizids (Thujaplicin). Der imposante Baum ist auch seiner warmen Farbe und seines reichhaltigen, einladenden Duftes wegen beliebt. Eine Zeder kann tausend Jahre alt werden. Sie wächst in Höhen bis zu 1300 Metern und kann 70 Meter hoch und 8 Meter breit werden. Als Totem eignen sich Zedern, die im dichten Wald stehen – hochgewachsen, gerade und ohne Knorren muss der Baum sein – und in der Nähe eines Flusses stehen wegen des Abtransports. 

Entsprechend ihrem Status werden Zedern vor der Fällung gewürdigt: War der Baum ausgewählt, wurde das Dankesgebet gesprochen. Bekannt sind drei Fällmethoden: Der Baumstamm wurde am unteren Stamm kontrolliert angebrannt, bis er in die gewählte Richtung fiel. Zuvor war nasser Ton um den Stamm angebracht worden, der das Feuer kontrollierte. Bei einer zweiten Methode wurde zuerst eine Höhlung in den Stamm gemeisselt, die mit heissen Steinen gefüllt wurde. Die entstehende Kohle wurde regelmässig entfernt, die Steine nachgefüllt, bis der Baum fiel. Eine dritte Art, den Baum zu fällen, bestand darin, den Stamm mit Meissel und Keil auf einer gewissen Höhe rund herum zuzuspitzen, bis er fiel. Bei Stammumfängen von mehreren Metern war das ein Riesenaufwand.

Traditionelle Totempfähle wurden vollständig von Hand geschnitzt. Bevor die Eisenwerkzeuge der europäischen Siedler und Händler verfügbar wurden, verwendeten die Handwerker für diesen arbeitsintensiven Prozess Muscheln, Holz, Knochen, Steine, Geweihe und Biberzähne. Danach wurde die Farbe von Hand aufgetragen – Rot, Schwarz, Türkis und Weiss waren die vier Hauptfarben. Heute werden elektrische Sägen verwendet, um das vorher aufgezeichnete Design grob auszuarbeiten. Die Details werden anschliessend von Hand mit Werkzeugen fertig bearbeitet. Ein erfahrener Schnitzer benötigt, je nach Grösse und Komplexität der Figuren, mehrere Monate für die Herstellung. 

Potlatch – Reichtum, Macht, Verbot

Dass die Tradition und das Handwerk des Totemschnitzens ab den 1950er-Jahren, vor allem aber in jüngerer Zeit, ein Revival erfahren, ist dem Museum of Anthropology (MOA) an der University of British Columbia zu verdanken. Im Rahmen ihrer Assimilationspolitik hatte die kanadische Regierung ab 1884 bis 1951 des Potlatch verboten, diejenige Zeremonie, die mit der Errichtung eines Totems ausgerichtet wurde. Das mehrtägige Fest, zu dem Hunderte von Gästen empfangen wurden, diente der Verteilung von Geschenken, Tänzen, Reden, Trommeln und dem Gesang, effektiv aber der Umverteilung von Reichtum, der Verleihung von Status und Rang an Einzelpersonen, Verwandtschaftsgruppen und Clans sowie der Begründung von Ansprüchen auf Namen, Macht und Rechte an Jagd- und Fischereigebieten. 

Die Zeremonie wurde von der Regierung als verschwenderisch im Umgang mit persönlichem Eigentum gewertet. Sie erkannte weder die symbolische Bedeutung des Potlatch noch den Wert des gemeinschaftlichen, wirtschaftlichen Austauschs. Danach wurden keine Totems mehr hergestellt. Gleichzeitig starben die traditionellen Schnitzer aus, ohne ihr Wissen und Können an die nächste Generation weitergegeben zu haben, was dazu führte, dass die Kunst des Totempfahl-Schnitzens beinahe ausstarb. Auch verstand die Bedeutung der Symbolfiguren nur, wer vom Schnitzer oder von der Familie, die das Totem in Auftrag gegeben hatte, instruiert wurde. Totems, die im Freien stehen, werden selten älter als 100 Jahre. Sie vermodern im Laufe der Zeit im pazifischen Klima. Es drohte der Verlust dieses traditionellen Kunsthandwerks.

Das MOA verstand die Tragweite des Verbots. 1950 wurde einer der letzten verbliebenen Schnitz-Meister im Pazifischen Nordwesten mit der Nachbildung alter Totempfähle beauftragt. Dieser Voraussicht sowie der Aufhebung des Potlatch-Verbotes im Jahr 1951 ist es zu verdanken, dass heute eine neue Generation von Handwerkern gelernt hat, Totempfähle zu schnitzen. 

Holzindustrie will Zedern

Allerdings spielt sich an der pazifischen Nordwestküste aktuell ein umweltpolitisches Drama ab. In den Wäldern werden die uralten Zedern, von denen viele als Schnittholz mehr als 20 000 kanadische Dollars wert sind, in einem rasanten Tempo abgeholzt. Nach Angaben der University of British Columbia werden beispielsweise jährlich mehr als 2000 Hektaren der Haida-
Wälder abgeholzt. Laut der David Suzuki Foundation fällt die kanadische Forstindustrie derzeit besonders aggressiv die begehrten Roten Zedern der Haida, weil sie keinen Zugang zu den verbleibenden Beständen der Roten Zedern in den USA mehr hat. 
30 Prozent der Haida-Wälder sind mit dieser Baumart bestockt. Sie machen den Grossteil der jüngsten Abholzungen aus.

Familien müssen stundenlang fahren, um alte Zedern für ihre Totempfähle, Kanus, Masken und Webereien zu finden. So wie Lisa White-Kuuyang und ihr Bruder Christian, ein Schnitzer, beide vom Stamm der Haida und von der Insel Haida Gwaii vor der Westküste Kanadas. «Ich habe mein ganzes Leben lang zusehen müssen, wie unsere Wälder verschwinden», klagte sie kürzlich der Tageszeitung «The Toronto Star». «Jetzt müssen wir für die Rettung der Bäume kämpfen». Die Aktivistin blockiert Abholzungen, hält Reden, schreibt Briefe, erstellt Videos und Kampagnen in den sozialen Medien – sie spricht für ihr Volk, ihre Vorfahren und künftige Generationen. Bäume, die sich für Totems eigneten, müssten alt sein, erklärt ihr Bruder. «Es werden zu viele alte Zedern gefällt», sagt er. Auch solche, die erst 300 Jahre alt seien, müssten geschützt werden, damit sie in einem Jahrhundert geerntet werden könnten.

Angesichts dieser komplexen Situation wäre die Rückgabe des Totem aus dem schottischen Museum an die Nisga’a folgerichtig. Wird es eine erfolgreiche Überführung geben, soll das Totem laut Stephens im Nisga’a Museum in Lax̱g̱altsʼap, einem Dorf im Nordwesten Britisch Kolumbiens, aufgestellt werden. «Für uns lebt in allen gestohlenen Totems der Totemgeist», erklärt er die Notwendigkeit einer Rückführung. Nur wenn Totems umfallen, lebe der Geist nicht mehr.

 

UNDRIP

Die Deklaration UNDRIP ist eine nicht-rechtsverbindliche Erklärung der Vereinten Nationen von 2007. Sie definiert die Rechte indigener Völker, einschliesslich der Eigentumsrechte an ihrer Kultur, Identität, Sprache, Arbeit, Gesundheit, Bildung und anderen Themen, wie der Repartriierung. Im musealen Kontext bedeutet Repatriierung die Rückgabe identitätsstiftender, kultureller oder sakraler Objekte an ihre Herkunftsgesellschaften. Diese wurden im kolonialen Kontext erworben, unter ungleichen Machtverhältnissen angeeignet oder geraubt. (Monika Jäggi)

 

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